Isländische Arbeitswelt

Beyond New Normal – Wie die Arbeitswelt vom isländischen Beispiel profitieren kann

Island hat in zwei groß angelegten Studien gezeigt, dass die 4-Tage-Woche nicht zu weniger, sondern zu mehr Produktivität führen kann. Aber ist das auch auf Deutschland und andere europäische Länder übertragbar? Dies ist der Versuch, Antworten darauf zu finden.

Alle reden heute von New Work, und die meisten meinen etwas ganz anderes als der Erfinder. Der deutsch-amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann dachte nämlich um 1980 daran, dass das traditionelle Jobsystem im Zeitalter der Automatisierung immer mehr an seine Grenzen stößt und die Menschheit so die einmalige Chance habe, sich von der Knechtschaft der Lohnarbeit zu befreien. Und dabei dachte er vor auch daran, dass man künftig weniger arbeiten wird und zu einem Drittel dabei das tun sollte, was man „wirklich, wirklich will“.  Die zentralen Werte sollten aber Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gesellschaft sein, und die werden auch nach heutigem New-Work-Verständnis weiter großgeschrieben.

Lohn und Produktivität zwei verschiedene Schuhe

In „Die zehn Globalisierungslügen“ von 1998 weisen der Volkswirt Gerald Boxberger und der Physiker Harald Klimenta unter anderem darauf hin, dass nicht die Höhe des Lohns, sondern die Produktivität in dem jeweiligen Land entscheidend ist. Und damit sah es in Island, laut Spiegel und OEZD dem Land mit der höchsten Wochenarbeitszeit und mit den längsten Lebensarbeitszeiten von ganz Europa, eher bescheiden aus. Daher wurden dort 2015 und 2017 zwei große Feldversuche gestartet, um zu sehen, wie sich die Verringerung der Arbeitszeit auswirkt. An der ersten Studie nahmen 2.500 Beschäftigte teil, an der zweiten im Jahr 2017 mehr als 400. Das Ergebnis war jeweils, dass die Produktivität darunter nicht gelitten hat, sondern im Gegenteil hier und da sogar gestiegen ist. Dazu hat man aber auch die Arbeitsroutinen überarbeitet und Meetings zum Beispiel verkürzt oder ganz durch E-Mail-Verkehr ersetzt. Außerdem hat man auch gezielt nach Aufgaben gesucht, die sich ersatzlos streichen lassen.

Vom Experiment zum flächendeckenden Rechtsanspruch

Statt 40 Stunden arbeiteten die Beschäftigten der unterschiedlichsten Branchen und Berufsgruppen nur noch 35 bis 36 Stunden in der Woche – bei vollem Lohnausgleich. Stätten für Kinderbetreuung und Pflegeheime waren ebenfalls Teil des ersten Experiments mit 2.500 Beschäftigten wie Krankenhäuser, Schulen, Dienstleistungszentralen und öffentliche und kommunale Verwaltungsstellen, heißt es auf Pressenza. Nine-to-Five-Jobs waren ebenso dabei wie solche mit Schichtarbeit. Wie das eben genannte Redaktionsnetzwerk Gudmundur Haraldsson von dem britischen Think Tank ALDA (European Association for Local Democracy) zitiert, zeige die „isländische Reise“ zur kürzeren Arbeitswoche nicht nur, dass dies möglich ist, sondern ein progressiver Wandel auch machbar ist. Was mit 2015 gerade mal 66 Beschäftigten in der isländischen Hauptstadt Reykjavík begann, ist für 86 Prozent der Inselbevölkerung zu einem Rechtsanspruch geworden, bei Pflegeschichten gilt sogar nur eine Wochenarbeitszeit von 32 Stunden.

Die Ergebnisse und positiven Effekte der Umstellung waren:

  • Gleichbleibende oder sogar höhere Produktivität
  • Motiviertere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
  • Steigende Attraktivität des Unternehmens (Employer Branding)
  • Kein nennenswerter Anstieg von Überstunden
  • Weniger Krankschreibungen und Risiken von Burnout
  • Mehr Vereinbarung von Familie und Beruf für die Angestellten
  • Mehr Zeit für Sport und ähnlich ausgleichende Freizeitbeschäftigungen

Dickens lässt grüßen: 1825 galt noch die 82-Stunden-Woche

Abgesehen von einem Unternehmen, das dafür extra ein Komitee mit langwierigen Diskussionen eingerichtet hatte, waren laut t3n entgegen den Erwartungen von Kritikern auch kaum Anstrengungen nötig, die Arbeitsprozesse mit Blick auf die 4-Tage-Woche zu optimieren. Die Beschäftigten stimmen sich miteinander ab, wann sie ihre freien Tage haben und werden entsprechend eingeteilt.

Auch in Deutschland wird immer mehr der Ruf nach einer 4-Tage-Woche laut, und selbst immer mehr Unternehmen treten dafür ein. Die in Island festgestellten positiven Effekte wie weniger Krankschreibungen und ausgeglichenere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sprechen für sich.

Dass 12 bis 16 Stunden stumpfsinnige Arbeit an sieben Tagen die Woche wie zu Zeiten der fiktiven Dickens-Figuren Oliver Twist und David Copperfield nicht wirklich produktiv sein kann, ist zum Ende der ersten Industriellen Revolution auch Hardlinern immer mehr klargeworden. Tatsächlich galt in Deutschland 1825 laut dem Institut für soziale Dreigliederung noch die 82-Stunden-Woche, heute für die meisten unvorstellbar. 1900 einigten sich die Schlüsselbranchen in Deutschland auf die 60-Stunden- und 6-Tage-Woche, 1918 auf 48 Stunden. 1956 erfolgte dann der Übergang zur 5-Tage-Woche, 1965 hat die Druckindustrie als erste mit der 40-Stunden-Woche begonnen, seit 1995 sind die Druck-, Metall- und Elektronindustrie laut Tarifvereinbarung bereits bei der 35-Stunden-Woche.

Island ist das Land mit der höchsten Wochenarbeitszeit und mit den längsten Lebensarbeitszeiten von ganz Europa. Quelle: Adobe Stock / mandritoiu

Wären 35 Stunden wie in der Industrie nicht genug?

Da stellt sich natürlich die Frage, ob man nicht allgemein zur 4-Tage- und 35-Stunden-Woche übergehen sollte. Dagegen spricht jedoch die große Zahl von Menschen in Kreativberufen, im Sales und Marketing und im Management schon über die 2021 wirklich dünn gesäten Feier- und Brückentage stöhnen, weil sie befürchten, ihr Arbeitspensum nicht zu schaffen. Krankenhauspersonal arbeitet oft 60 Stunden und mehr, wenn man die Nachschichten einrechnet. Kleine und mittelständische Unternehmen müssten vielleicht um ihren Personalstamm fürchten, Startups um ihren gelungenen Start. Denn ohne die vielen jungen Leute, die sich engagieren und dabei nicht auf die Uhr schauen, könnten viele von ihnen gleich wieder „einpacken“. Andererseits gehören sie auch höchst selten den Tarifverbänden an, aus denen sich auch große Unternehmen mehr und mehr verabschiedet haben.

Die Coronakrise, so schlimm sie ist, hat allerdings so wie in Island auch ein Stück Vertrauen zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hergestellt, wie es vorher für viele Betriebe kaum denkbar war. Denn plötzlich war ab dem ersten Lockdown im März 2020 Homeoffice das Gebot der Stunde. Statt die Belegschaft nur auf der Couch herumlümmeln zu sehen, hat das Gros der Unternehmen festgestellt, dass dieses Remote Work mit keinen Produktivitätseinbußen einhergeht, sondern wie in Island oft im Gegenteil die Angestellten produktiver werden lässt. Freiheit, Selbständigkeit zum Handeln Teilhabe an der Gemeinschaft ist dabei frei nach Bergmann und seinem New Work u einer ganz wesentlichen Triebfeder geworden. Und das ist Teil dieser heute viel beworbenen Agilität, die auch die Berater von Axians den Unternehmen auf die To-do-Liste schreiben.

Homeoffice ist für viele Betriebe und ihre Beschäftigten schon zum New Normal geworden, dass es allgemein auch die 4-Tage- oder 35-Stunden-Woche wird, scheint trotz der wachsenden Zahl von Befürwortern in der deutschen Wirtschaft ungewiss. Durchsetzbar wäre es auch nur mit staatlicher Direktive. Allerdings müssten dazu auch Ausnahmen zugelassen sein, denn sonst würden viele Unternehmen sich davonstehlen und ihre Angestellten an der Stechuhr vorbei wieder ins Büro.

Quelle Titelbild: Adobe Stock / siimsepp

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