Nachlese zum Digitalgipfel 2024
Redaktion Digital Chiefs
Ende Oktober fand in Frankfurt am Main der Digitalgipfel 2024 der Bundesregierung statt. Die übte ...
Zum BeitragKennen Sie den Digital-Index von Deutschland? Nein? Er ist 58. Wissen Sie, wie hoch der prozentuale Anteil an „digitalen Vorreitern“ in Deutschland ist? Nein? 44 Prozent! Auch wenn die Werte so belastbar, so wichtig und interessant sind wie der berühmte Sack Reis, der gerade in China umfällt, ist die Frage nach der Relevanz von Digitalisierung in der Gesellschaft umso wichtiger.
Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich auf meinem Dachboden eine alte Ausgabe der WirtschaftsWoche gefunden. Es ist die Ausgabe 47/95 vom 16. November 1995. Im Editorial bemüht der damalige Chefredakteur Stefan Baron eine Studie des Allenbach-Instituts. In der Studie geht es um das, was wir heute als Digitalisierung bezeichnen. Es geht um Wandel. Es geht um die Zukunftsfähigkeit von Deutschland. Es geht um „die Deutschen und die Informationsgesellschaft“. Grob zusammengefasst: Deutschland muss massiv investieren. In Breitband. In den technischen Wandel. In die Zukunft. Was noch besonders erwähnenswert ist: „Deutschland hat noch einiges aufzuholen und wettzumachen.“ Und wenn wir das alle nicht täten, so würden wir abgeschlagen die Wettbewerbsfähigkeit verlieren.
Zunächst eine Memo an mich selbst: Heutzutage wird nicht mehr „gespult“ sondern „gesprungen“. Springen wir also vor in das Jahr 2020. Wir könnten uns wundern, warum ich eine 25 Jahre alte Zeitung aufhebe. Oder wir könnten uns wundern, warum wir im Jahr 2020 über die gleichen Themen diskutieren (müssen). Lesen wir heute etablierte Blogs und Onlinemagazine oder schlagen wir Qualitätsmedien wie die WirtschaftsWoche auf, dann heißen die Feingeistschreiber nicht mehr Baron oder Behrens, sondern Balzli und Kroker; die Artikel haben allerdings den gleichen Tenor. Klar. Die Begriffe haben sich weitestgehend geändert. Die Grundaussagen sind aber identisch. Laut diversen Artikeln, Kolumnen und mannigfachen Studien ist Deutschland „digital abgehängt“ und muss ums Überleben kämpfen. (Anmerkung: Was für ein Lacher.) Beispiele gefällig? Breitbandausbau: „Deutschland liegt bei der Internetgeschwindigkeit“ auf Platz 25, „19 europäische Länder haben schnelleres Internet als wir!“ Oder: „Glasfaserausbau kommt in Deutschland kaum voran.“ „Wir“ liegen hier sogar hinter Spanien.
Oder allgemein zum Thema Digitalisierung: Laut „Digital Readiness Index“ erreicht Deutschland Platz 14 im internationalen Vergleich. Und: „69 Prozent [der Befragten] sehen die Bundesrepublik jedoch international eher im unteren Drittel, wenn nicht sogar in der Schlussgruppe.“ Also ganz schlimme Vorzeichen: Deutschland als Land, und jeder einzelne Bürger, geht am Stock. Weil wir eben alle nicht digitalisiert sind. Also „nicht alle“, bis auf die 44 Prozent, die angeblich laut dem „D21-Digital-Index“ zu den digitalen Vorreitern zählen.
Seit dem Jahr 2013 liefert die Studie „D21-Digital-Index“ ein umfassendes jährliches Lagebild zur digitalen Gesellschaft in Deutschland. Im siebten Jahr in Folge erfasst die Studie mit dem Digital-Index den Digitalisierungsgrad der deutschen Gesellschaft in einer einzigen Kennzahl. Der Digital-Index kombiniert und verdichtet die vier Kennzahlen „Zugang“, „Nutzungsverhalten“, „Kompetenz und „Offenheit“ zu einer zentralen Kennzahl. Die Studie enthält die Kernfragen im Umgang mit der Digitalisierung in Deutschland: Wie ist es um die Internetnutzung insgesamt, aber auch mobil, bestellt und welche Geräte nutzen die Bürger/-innen hierfür (Zugang)? Welche digitalen Anwendungen und sozialen Medien nutzen sie und wie oft (Nutzungsverhalten)? Wie viel Expertise gibt es bei digitalen Themen (Kompetenz)? Sind sie bereit, sich selbst neues digitales Know-how anzueignen, und welche Rolle sollten beispielsweise Schulen bei der Wissensaneignung einnehmen (Offenheit)?
Im Digital-Index 2019/2020 vom Bundesamt für Wirtschaft wird ein ganzheitliches Bild zum Status Digitalisierung in Deutschland aufgezeigt; von den Deutschen aufgezeigt. Darin steht auch (wie schon in anderem Kontext erwähnt), dass „wir“ zwar immerhin schon zu 44 Prozent zu den digitalen Vorreitern zählen und diese Zahl steigt, dass das aber immer noch recht wenig ist. Dafür wollen aber auch 50 Prozent der Befragten (71 Prozent der 14- bis 19-Jährigen) sich im Bereich Digitalisierung fortbilden, um digitale Champions zu werden.
Zunächst stellt sich mir die Frage: Wenn in Deutschland in Bezug auf Digital & Co. alles so schlecht ist, warum stehen „wir“ dann wirtschaftlich relativ gut da? Der Bruttoschuldenstand des Staates in Prozent vom BIP (vor dem Corona-Effekt) lag bei ca. 60 Prozent. Und im super digitalisierten Italien bei 134 Prozent. Die Erwerbslosenquote in Deutschland lag bei den 15- bis 24-Jährigen bei 5,8 Prozent. Und in Finnland, aka „Digitalistan“ bei 17 Prozent. Und weil wir gerade dabei sind: Warum liegt das BIP-Wachstum in Deutschland seit der Wirtschaftskrise 2008 über dem Wert der EU-28 und dem Euroraum/EA-19; wenn wir doch „digital abgehängt sind“? Und? Und! Und … Und überhaupt … Ich könnte hier zahlreiche weitere Studien und Vergleich aufzählen. Aber was würde es bringen?
Ferner stellt sich die Frage: Ist bzw. kann „Digital Champion“ ein Ziel sein?
Machen wir es kurz: Die größeren wirtschaftlichen Erfolge gegenüber stärker digitalisierten Ländern lassen sich nicht in der (fehlenden) Digitalisierung begründen, sondern durch zahlreiche andere politische und wirtschaftliche Rahmenparameter. Stichwort: keine Deindustrialisierung, politische und gesellschaftliche Reformen in den 1990er-Jahren etc. Keine Digitalisierung ist kein Konzept, keine Strategie, sondern vielmehr eine falsche Allokation – eine fehlerhafte alternative Nutzung von Mitteln – zulasten der derzeitigen und zukünftigen Generationen.
Die Frage, ob „Digital Champion“ ein Ziel ist, muss jeder selbst beantworten. Ich persönlich bin der Meinung, dass es kein Ziel ist; kein Ziel sein kann. Es ist billiges Marketingsprech, das die realen Probleme verdeckt.
Bevor die Frage geklärt wird, warum „wir“ kein „Digital Champion“ sind, noch kurz Digitalisierung im Kontext erklärt.
Eine digitalisierte Wirtschaft bedarf eines funktionierenden Rahmenwerks; eines funktionierenden „Ökosystems“ in einem Spannungsdreieck aus „rechtlicher Verbindlichkeit“, „technischen Standards“ und einem „intakten Wettbewerb“. Alle drei essenziellen Eckpfeiler einer digitalisierten Wirtschaft sind in Deutschland im Besonderen und in Europa im Generellen unterentwickelt.
Warum ist dem so? Erstens: Die sich schnell verändernden Märkte sind extrem regulierungsbedürftig. Die Politik und insbesondere Aufsichtsbehörden sind sehr gefordert. Sie geraten in Situationen, die weitsichtige moralische und ökonomische Entscheidungen verlangen. Und dies mit/bei oftmals sehr geringer Transparenz über das (technisch) machbare.
Zweitens: Eine aktive Gestaltung der Digitalisierung, exemplarisch beim Bereitstellen von Infrastrukturen für öffentliche Einrichtungen, Behörden und politische Entscheider ist eine mehr als schwere Aufgabe. So werden einerseits frühzeitige Investitionen in wohlfahrtssteigernde Infrastrukturprojekte von den Bürger/-innen nicht quotiert. Andererseits führt das politische System die Realisierung von Maßnahmen an die Grenzen.
Drittens wurden in den vergangenen 15 bis 20 Jahren insbesondere in Deutschland keine relevanten politischen Maßnahmen im Umfeld der digitalen Wirtschaft forciert, die das politische oder unternehmerische Interesse an Standardisierung, respektive einer gezielten wirtschaftspolitischen Durchsetzung von Standards im nationalen oder europäischen Interesse zum Ziel hatte. Dieser signifikante Bereich wurde über Jahrzehnte den USA und in den vergangenen Jahren chinesischen Interessengruppen kampflos überlassen.
Viertens: Die Anzahl an relevanten privatwirtschaftlichen Unternehmen in Deutschland, die im weitesten Sinn eine politstrategische und systemrelevante Relevanz haben, respektive deren Bruttowertschöpfung, also der im Produktionsprozess geschaffenen Mehrwert, wurde insbesondere in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren von der Politik als zu gering eingeschätzt, als dass dieser Wirtschaftszweig überproportional gefördert wurde. Im gleichen Atemzug wurde verkannt, welche Möglichkeiten eine starke Digitalindustrie für die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen hat.
Fünftens: Die Gesellschaft, angefangen bei Gewerkschaften über Verbände und NGOs, über weite Teile der politischen Entscheidungsträger bis hin zu einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung haben über Jahrzehnte die wohlfahrtssteigernden Elemente der Digitalisierung nicht gewürdigt.
Sechstens: Fehlende Reflexion in weiten Teilen der Gesellschaft. Es fehlt an einer breiten Sensibilisierung und umfassender Ausbildung der breiten Öffentlichkeit.
Eine digitalisierte Gesellschaft bedarf eines funktionierenden Rahmenwerks; eines funktionierenden „Wertesystems“ in einem Spannungsdreieck aus „Wollen“, „Können“ und „Dürfen“. Und dies im engen Austausch mit dem bereits skizzierten „Ökosystem“; insbesondere mit rechtlicher Sicherheit und Verbindlichkeit. Wie bei einem Ökosystem ist im Wertesystem in vielen Teilen kein Verständnis in der Breite vorhanden.
Erstens: Die Gesellschaft ist auf das Thema Digitalisierung nicht vorbereitet. Viele können Chancen und Risiken nicht abschätzen; sind nicht in der Lage – oder willens – den digitalen Alltag selbstbestimmt zu organisieren. Paradebeispiele: die Diskussionen im Kontext von künstlicher Intelligenz. Oder: die jubelperser- und kadavergehorsamgleiche Nutzung von WhatsApp bei gleichzeitig nahezu verschwörungstheoretischen Phantasien, wie es ein Erich von Däniken nicht besser erzählen könnte, und die Vorbehalte gegen die Corona-Warn-App.
Zweitens: Unternehmen sind nicht für den Wandel gemacht. Digitalisierung bedingt Wandel. Unternehmen, denen es grundsätzlich gut geht, sperren sich oftmals gegen Wandel (Stichwort: „Never change a running System“). Deshalb sind aus reinem wirtschaftlichen Druck spanische oder italienische Unternehmen stärker digitalisiert. (Die wirtschaftlichen Defizite lassen sich durch andere Determinanten erklären.)
Drittens: Der Mehrheit der Menschen, und insbesondere denen, die etwas verändern können, geht es relativ und absolut betrachtet gut. Der persönliche und kollektive Druck für Veränderungen ist nicht sonderlich groß. „Wir“ akzeptieren die Realität, die Welt, die „uns“ dargeboten wird, so, wie sie ist. So einfach ist das. Somit findet die Zukunft permanent statt; ist gegenwärtig. Veränderung findet langsamer statt und Neuerungen werden langsamer, aber qualitativ hochwertiger aufgesogen. Und dies ist eigentlich eine Stärke Deutschlands; eine Stärke unserer Gesellschaft.
Digitalisierung, in einem gewissen Grad, ist für jeden einzelnen Bürger, für jedes Unternehmen, den Staat – kurzum die Gesellschaft – unabdingbar. Digitalisierung ist Grundlage für die nächste Stufe des wirtschaftlichen Wachstums, respektive den Erhalt des Status quo, und ist Basis für die Lösung zentraler gesellschaftlicher Probleme. Egal ob der ganze Planet Erde betrachtet wird, einzelne Kontinente, Länder, Unternehmen oder Menschen: Alles zerfällt „dank“ oder wegen der Digitalisierung in drei Cluster: Konsumierende („Klickvieh“ und „Hamster“), Ausgeschlossene (die, die auf die Konterrevolution warten) und Macher (die, die aktiv gestalten). Jeder kann sich selbst entscheiden, zu welcher Gruppe er gehören will. Und für welche Gruppe sich eine Mehrheit der Gesellschaft entscheidet, entscheidet darüber, ob „wir“ digitale Champions werden …
Wer schon als Digital Champion gilt und was andere Unternehmen von diesen lernen können, erfahren Sie in unserem Artikel: „Digitale Produktentwicklung – Von den Champions lernen“.
Quelle Titelbild: Adobe Stock /pickup